Kengaku – Lernen durch Beobachtung

Es ist Zeit, diesen Blog mal wieder etwas zu beleben, er hat in letzter Zeit doch viel zu wenig Zuwendung erfahren.

Ich möchte über ein Thema schreiben, dass für mich ein sehr wichtiges und essentielles Element das Taiko-Unterrichts darstellt. Das Beobachten, Zuschauen. Im japanischen gibt es dafür den Begriff Kengaku (見学). Das Wort setzt sich zusammen aus den beiden Schriftzeichen für „Sehen“ und „Lernen“. Dass es hierfür keine direkte oder wirklich passende Übersetzung ins Deutsche gibt, ist kennzeichnend für zwei unterschiedliche Lernkulturen.

In einem Wörterbuch findet sich nur die Übersetzung von „Kengaku“ als Studienreise, was nur einer möglichen Verwendung von Kengaku entspricht. Ein anderes findet immerhin die treffende Bezeichnung „study by observation“ – Lernen durch Beobachtung.

Wir sind in unserer westlichen Gesellschaft sehr auf das Wort fokussiert. Von einem Lehrer wird erwartet, dass er redet, erklärt, beschreibt… Das ist keinesfalls schlecht, schließlich gehört die mündliche Kommunikation zum Menschen und macht den Menschen eigentlich erst zum Menschen.

So nimmt die mündliche Beschreibung von Lerninhalten beim Taiko eine wichtige Rolle ein, sie sollte aber auf keinem Fall der einzige Kanal sein, auf dem die Vermittlung der Lerninhalte stattfindet. Denn Worte stellen immer nur eine Abstraktion und eine Annäherung an das zu Beschreibende dar. So gibt es immer auch Dinge, die sich nur sehr schwer oder gar nicht in Worte fassen lassen.

Tokyo
Tokyo at night, überhaupt nicht dunkel

Hier kommen nun unsere anderen Sinne ins Spiel, allen voran der Sehsinn! Denn einen erheblichen Teil unsere Sinneseindrücke macht ja das Sehen aus, vor dem Hören, Fühlen oder Riechen, ob man es so will oder nicht.

In Japan ist das Bewusstsein für die Vorherrschaft des Sehsinns tief in die Kultur eingewandert. Man denke an japanische Schriftzeichen – jedes Wort ein kleines Kunstwerk in sich, an die japanische Manga-Kultur, an von bunter Leuchtreklame beherrschte Städte, oder an quietschbunte japanische Fernsehshows mit fast ununterbrochenen visuellen Effekten.

Aber zurück zum Taiko-Unterricht. Als extrem körperliche Musikform in der Bewegungsabläufe eine entscheidende Rolle spielen, die das Taiko nun mal ist, kann man die Wichtigkeit des Sehens, des Beobachtens gar nicht hoch genug einschätzen. Aber wie soll das genau ablaufen? Einfach gucken?

Ich gebe an dieser Stelle mal eine verblüffend einfache Anleitung zum Taiko Lernen:

  1. Beobachten      2. Erkennen      3. Nachmachen

Diese Anleitung ist so einfach, es ist einfach zu schön um wahr zu sein! Aber doch, so einfach ist es!

Hier noch Mal im Detail die 3 Schritte:

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1. Beobachten

Nimm dir Zeit zum Beobachten und schaue genau zu. Wichtig ist natürlich, dass dafür auch die Gelegenheit im Taiko-Unterricht geschaffen wird, denn wer selbst gerade trommelt hat meist nicht mehr genug Aufmerksamkeit um wirklich in Ruhe andere zu beobachten.

Versuche beim Beobachten eine neugierige, offene Haltung zu haben, in der du die anderen Übenden nicht sofort beurteilst, in der Art: „der ist aber besser als ich“, „die trommelt aber komisch“ oder „so gut werde ich nie trommeln können“. Wenn du mit deiner eigenen Positionierung in der Gruppe kämpfst, dich nur auf eigene Unzulänglichkeiten konzentrierst und negative Vergleiche mit anderen Spielern anstellst wirst du nicht offen sein, für die Möglichkeiten und positiven Anregungen, also all die Dinge die du von anderen Spielern (den Taiko-Lehrer natürlich mit eingeschlossen) lernen kannst.

Versuche stattdessen einfach mit all deinen Sinnen wahrzunehmen, wie die anderen Übenden sich bewegen und wie sie sich verhalten. Zuerst ohne Bewertung, einfach nur beobachten. Achte auf Details der Bewegungen aber auch auf das große Ganze.

2. Erkennen

Wenn du Schritt 1 regelmäßig beachtest, wirst du mit der Zeit besser darin werden und wahrscheinlich immer wieder neue Aspekte entdecken, die dir zuvor nicht aufgefallen waren. Jetzt – genau an diesem Punkt – ist die Chance etwas zu lernen! Vielleicht fällt es dir am Anfang schwer zu erkennen, welche Bewegung nun „richtig“ und nachahmenswert ist und welche „falsche“ Bewegung zu vermeiden ist. Aber je länger du übst und du andere beobachtest, desto mehr wirst du ein „Auge“ dafür bekommen und wirst auch intuitiv spüren, was sinnvoll und richtig ist.

3. Nachmachen

Versuche die Bewegungen die du bei anderen Übenden beobachtet hast innerlich nachzuspüren und dann nachzumachen. Wiederhole das ganze und gib dich mit einem Mal nicht zufrieden. Nochmal: beobachten, erkennen, nachmachen

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Hier müsste nun eigentlich noch Schritt 4 folgen: „Entwickle deinen eigenen Stil auf Grundlage des Beobachteten“. Da aber Schritt 1. bis 3. oft viel zu sehr vernachlässigt werden, möchte ich hier den Fokus auf diese 3 Schritte lenken.

Ein fast schon historisches Foto: Kaoly Asano beim Taiko-Unterricht, immer schön zuschauen!
Ein fast schon historisches Foto: Kaoly Asano beim Taiko-Unterricht, immer schön zuschauen!

Es ist gut möglich dass du dir dabei komisch vorkommst, denn wann machen wir im übrigen Leben schon Mal etwas was ein anderer Mensch tut direkt nach? Wir sind stolz darauf, wie individuell und selbstbestimmt wir vermeintlich sind. Und wir haben wegen unserer faschistischen Vergangenheit eine berechtigte Skepsis gegenüber dem bloßen Nachmachen, dem Mitlaufen ohne kritische Distanz. In der Schule ist das individualisierte Lernen in aller Munde (das voneinander Lernen in Gemeinschaft kommt dabei meines Erachtens viel zu kurz). Trotzdem, an vielen Stellen und vor allem im Taiko-Unterricht nimmt das voneinander Lernen eine ganz besondere Stellung ein bzw. sollte es einnehmen.

Als kleine Kinder ist unser Lernen in den ersten Jahren des Lebens zum großen Teil durch das Prinzip Beobachten + Nachmachen (die anderen Sinne sind selbstverständlich hier mit eingeschlossen) geprägt. Es ist die „natürliche Art“ zu Lernen. Kinder sind glücklich, wenn sie so lernen, das Lernen ist Lebensinhalt und Lebensantrieb. Die ständigen neuen Erfahrungen und Entdeckungen bewirken Begeisterung, Spaß und Faszination, wichtige Voraussetzungen, dass das Lernen auch wirklich klappt. Einem Kleinkind muss niemand das Laufen lernen verordnen, es wird das ganz von alleine tun.

Warum verlieren wir als Schüler und spätestens oft als Erwachsene diesen Spaß am Lernen? Wegen der oftmals viel zu ergebnisorientierten, akademischen, theoretischen, überwiegend schriftlichen und wenig soziale Interaktion erfordernden Lerninhalte in der Schule, die die Schüler auf die moderne Arbeitswelt und nicht auf ein kreatives, selbstbestimmtes Leben vorbereiten sollen. Wir lernen, dass es besser ist, sich in der Schule gegen andere durchzusetzen, zu schummeln, nur kurzfristig für Prüfungen Fakten zu memorieren.

Taiko spielen ist Praxis pur! Und das in Gemeinschaft, also das komplette Gegenteil davon!

Wer mit einem Beruf anfängt merkt oft plötzlich, dass hier viel mehr Praxis als Theorie gefordert ist (wie viele Menschen haben erst mit Beginn ihres Berufs gemerkt, wie wenig sie die Schule tatsächlich auf den Beruf vorbereitet hat?) und dass man aus den Erfahrungen an der konkreten Arbeit die man tut am meisten lernt.

Das „Lernen“ wird mit unseren Erfahrungen in der Schule überwiegend negativ assoziiert, klar dass diese Erfahrungen am Anfang das Erlebnis des Taiko-Unterrichts prägen. Wir schleppen dieses ganze Paket an negativ belasteten Lernerfahrungen in den Taiko-Unterricht mit. Der eine mehr, der andere weniger. Es kann eine Zeitlang dauern bis man entdeckt, wie der Weg zurück an den Anfang der Kindheit der eigentliche Schlüssel zum Lernen von Taiko (aber auch von anderen Dingen) sein kann:

1. Beobachten      2. Erkennen      3. Nachmachen

Ich habe während meines ganzen 16-monatigen Japan-Aufenthaltes 2004-2005 als Schüler des Tawoo Dojo unzählige Proben von Gocoo besucht. Ich habe Trommeln getragen und in den Pausen mit am Tisch gesessen, aber ich habe in 16 Monaten keinen einzigen Ton auf einer Trommel bei Gocoo gespielt. Stattdessen habe ich zum Teil bis zu 8 Stunden lang nur beobachtet, zugehört und beobachtet. Und ich habe unglaublich viel dadurch gelernt!

Wer beobachtet übernimmt selbst Verantwortung für seinen Lernprozess, er ist nicht mehr alleine von der Qualität der Beschreibungen des Lehrers abhängig. Und um ein selbstbestimmtes Lernen, darum geht es. Nicht um ein bloßes Kopieren.

2 Kommentare zu „Kengaku – Lernen durch Beobachtung

  1. Ein wirklich schöner Beitrag.
    Ich möchte dazu noch ergänzen, dass das Beobachten, Erkennen und Nachmachen immer stattfinden sollte, wobei das eigene Üben und das „sich mit der Sache Beschäftigen“ das Tempo des Fortschritts bestimmt.
    Alle drei oben genannten Tätigkeiten werden immer effektiver und natürlicher, je mehr man sich damit befasst. Ist ja auch logisch…
    Auch sollte man sich selbst beobachten, erkennen und auch einschätzen.
    Ich, mit meinen optimistisch geschätzten 90 Kilogramm Kampfgewicht, werde mich niemals so bewegen können, wie eine 45 Kilogramm schwere Japanerin. Da brauche ich gar nicht erst anfangen zu Vergleichen.
    Wenn ich daran denke, wie viele Stunden ich mit einem Bachi in der Hand auf dem Fussboden saß und versuchte, alle Gelenke so zu bewegen, wie ich es von Ingmar in Erinnerung hatte, so kann ich sagen, dass das Beobachten und Nachmachen die treibende Kraft war, die das Erkennen erst möglich machte. Dann folgte wieder das Beobachten, Nachmachen und Verbessern. Dies erfolgt ständig, wobei aber die Effektivität zunimmt.

    Aus einem anderen Bereich kenne ich noch folgende Abfolge:
    Lernen – Üben – Trainieren – Verstehen – Können

    Für das Lernen ist die Beobachtung die stärkste Unterstützung, gefolgt von dem Nachmachen, bzw. sich mit dem Aspekt auseinanderzusetzen.
    Kopf und Körper müssen sich erst mal an neue Bewegungen gewöhnen.

    Es folgt das Üben, wobei man auch eigene Erkenntnisse sammelt und das Übungsobjekt direkt mit sich in Verbindung bringt. Dies geht also über das reine Nachmachen hinaus, da man seine eigenen Möglichkeiten und Vorstellungen in die Übung mit einbringt.

    Dann kommt das Trainieren, hier weiß man schon, was man tut und wie man es tut. Es geht um die ständige Wiederholung, bis es einem ganz einfach vorkommt. Hier kommt sehr viel Erkennen ins Spiel, da man sich mehr und mehr selbst beobachten kann und sich nicht mehr vollkommen auf die Übung konzentrieren muss. So erkennt man immer leichter, wo man was verbessern kann. Auch erkennt man hier, was einem nicht so liegt, evtl. findet man Alternativen. Es könnte sich auch ein wenig ein eigener Stil herausbilden.

    Je weniger man sich auf die Bewegungen konzentrieren muss, desto mehr Freiraum bleibt für die Selbstbeobachtung und Experimente. Hier beginnt meiner Meinung nach das Verstehen.

    Aus dem Verstehen bildet sich langsam wahres Können.

    Diese Schritte lassen sich übertragen auf einen einzelnen Schlag, ein einzigen Ausholen, oder auch auf das Spielen eines ganzen Stücks.

    Worauf es dennoch immer ankommt ist viel Zeit mit dem Übungsobjekt zu verbringen.

    So viel wollte ich gar nicht schreiben, aber evtl. liest ja jemand 😉

    Viele Grüße

    Michi

  2. Ey Michi, danke für deinen tollen Kommentar! Ich müsste ihn eigentlich direkt als Erweiterung an meinen Artikel anfügen, so gut ergänzt er das was ich geschrieben habe. Ich kann auch gar nichts mehr hinzufügen, weil das was du geschrieben hast schon absolut vollständig ist!

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